Zielsetzung:
Je gut geführte Verhandlung muss mit einer ausführlichen wechselseitigen Sondierung von Möglichkeiten, Wünschen und Absichten beginnen. Nur wer etwas über das Gegenüber weiß, vermag auch die Wirkung des eigenen Vorgehens abzuschätzen und zielorientiert auf den Verhandlungsverlauf Einfluss zu nehmen. Zu Anfang der Verhandlung gilt es viel in Erfahrung zu bringen und wenig preis zu geben. Ziele der Analyse sind: Einschätzung von Strategie, Taktik und Methodik der Gegenseite; Informationsgewinnung zu Motivstruktur, Zielen, Bedürfnissen und Rahmenbedingungen; Lösungsorientierung; Kooperationssignale senden; Sondierung anvisierter Lösungen und Spielräume der Gegenseite; Erkennen „empfindlicher Punkte“ und emotional belasteter Themen; Klärung des Kontext und der „Verhandlungsgeschichte“;
Thema:
- Öffnende Fragen
- Lösungsorientierung
- Reflektieren und paraphrasieren
- Verbalisieren vermuteter und/oder wahrgenommener Emotionen
- Präzisierungsfragen
- Kontrollfragen
- Nondirektive Gesprächsführung
Häufige Fehler:
Start mit eigener Position oder Forderung statt Exploration; Versuch der Kontrolle; Forderung von No-Gos; kein aktives Zuhören
Juristen fragen in Verhandlungen zu wenig und zu unsystematisch
Wenn ich nur ein einziges methodisches Defizit benennen dürfte, dass mir in all den Jahren des Coachens und Beratens von Juristen für Verhandlungssituationen aufgefallen ist und das ein mit Verhandlungen befasster Legal Counsel aus meiner Sicht als erstes beheben sollte, so fiele mir die Antwort leicht: Ich würde ohne auch nur eine Sekunde nachdenken zu müssen, einen eklatanten Mangel an professioneller Fragetechnik beklagen und für dessen sofortige Beseitigung plädieren. Was verbirgt sich dahinter?
Wir alle werden in dem Bewusstsein und mit dem Leitsatz erzogen „Wer nicht fragt bleibt dumm“. In dieser gut gemeinten pädagogischen Botschaft steckt jedoch eine durchaus weniger positive Bedeutung, nämlich die, dass derjenige, der frage, eben (noch) dumm sei. Der Frager setzt sich der Gefahr der Gegenfrage aus: „Ach – wissen Sie das nicht?“ oder „Können Sie sich das nicht denken?“ Das ist für gewöhnliche Sterbliche schon schwer zu ertragen, doch für Juristen eine schiere Zumutung. Nicht gänzlich ungern lässt sich der studierte Anwalt ja gelegentlich auch mal allerlei charakterliche Mängel anhängen oder attestiert sie sich in fröhlicher Juristenrunde gleich selbst, sei es eine unüberwindbare Streitlust oder – wenn es sein muss – auch mal Rechthaberei (sic!) oder Arroganz. Doch dumm sein, das geht gar nicht! Das hat man schließlich durch die Bewältigung eines der anspruchsvollsten Studienfächer überhaupt bereits bewiesen, in dem die „Einser“-Abschlüsse selten sind wie schwarze Schwäne und eine Promotion als Nachweis zur Befähigung geradezu übermenschlicher Lern- und Analysekompetenz - sprich: Intelligenz - gelten darf. Und jetzt etwas nicht wissen oder wenigstens es sich denken können? Wie unjuristisch wäre das denn?
Doch Informationsgewinnung ist in Verhandlungen nur eine von mehreren überaus nützlichen Eigenschaften geeigneter Fragen. Geschickte Fragetechnik ist eines der wertvollsten, wenn nicht sogar das wertvollste, methodische Instrument in Verhandlungsprozessen und jeder Verhandler sollte es eigentlich meisterhaft beherrschen. Hier also die Zielrichtungen und Auswirkungen kluger Fragetechnik auf den Verhandlungsverlauf:
a) Informationen gewinnen
Menschen konstruieren ihre eigenen Wirklichkeiten und die Illusion, man verstehe einander, nur weil man die gleichen Worte verwendet, ist weit verbreitet. Auch juristische Definitionen sind keineswegs immer fassbar und Motive von Verhandlern auf keinen Fall immer selbstverständlich. Sowohl die inhaltliche, als auch die psychologische Ebene einer Verhandlung profitiert enorm von Fragetechniken, die zur Präzisierung und Erläuterung bestimmter inhaltlicher und psychologischer Aspekte von Aussagen in professionell geführten Verhandlungen eingesetzt werden. Insbesondere, wenn man im Anschluss an die Antwort das Gehörte dann mit eigenen Worten zusammenfasst und auf den Punkt bringt. Aber es wird vom Juristen in aller Regel auch viel zu wenig paraphrasiert und kaum einmal aktiv zugehört. Daher lautet die methodische Empfehlung für den verhandelnden Legal Counsel: Mit Hilfe des 4-Satzes:
- Offene Frage
- Präzisierungsfrage
- Geschlossene Frage
- Paraphrase
werden Visionen, Interessen, Strategien, Ziele und Emotionen der anderen Partei allmählich zum Vorschein gebracht. Lösungsorientierte Fragen sind besonders wirkungsvoll, um die Denkmuster, Wünsche, Erwartungen und Vorhaben der Gegenseite heraus zu präparieren. Meist werden hierbei dann auch schon deren Schwachpunkte und Empfindlichkeiten deutlich.
Jede gut geführte Verhandlung sollte mit einer (wechselseitigen) Exploration und Analyse von Interessen, Absichten, Zielen und Spielräumen beginnen. Das Ausloten von Prioritäten und die Sondierung von möglichen Bereichen der Übereinstimmung und der Gegensätze stehen dabei im Mittelpunkt. Die Kunst des Verhandlers besteht hier darin, möglichst viel in Erfahrung zu bringen und möglichst wenig von sich preis zu geben. Ein typischer Fehler, den unerfahrene Verhandler, Juristen wie nicht-Juristen, in dieser Phase oft begehen, ist es, zu versuchen, bereits Positionen zu sichern, indem bestimmte Themen von vornherein als gesetzt oder vom Verhandlungsgeschehen ausgeschlossen dargestellt werden. Dies engt den Gesprächsrahmen und die eigene Flexibilität vollkommen unnötig ein und hat auf eine Gegenpartei, wenn sie über eben diese Themen reden möchte, keinerlei Einfluss.
Ebenso sinnlos ist es in aller Regel, mit dem Gegenteil - also irgendwelchen Zusagen oder Zugeständnissen - zu beginnen und darauf zu hoffen, dass sich die andere Seite deshalb ebenfalls entgegenkommend zeigt. Verhandlungen sind kein „Potlatch“ (ein Wettbewerb und Fest des Schenkens in der Tradition nordwest-amerikanischer Indianer) aber auch kein rhetorisches „Armdrücken“ oder „Fingerhakeln“, sondern der Versuch eines Interessenausgleichs zwischen Verhandlungspartnern, von dem sich beide Seiten einen Vorteil versprechen. Das in den meisten Konstellationen einzig sinnvolle Vorgehen besteht daher darin, eben diese Interessen zunächst einmal wechselseitig auszuloten und anschließend in einen gemeinsamen Such- und Findeprozess einzusteigen, der dazu dient, ein eventuell mögliches Optimum zu finden. Die Methode, diesen Prozess zu betreiben, ist eben das Fragenstellen in Verbindung mit aktivem Zuhören im suchenden Stil. Von eher unerfahrenen Verhandlern wird dies oft verwechselt mit einem Aufgeben der eigenen Ziele und Interessen, dabei bedeutet es lediglich, diese zwar fest im Blick zu haben aber nicht vor sich her zu tragen. Man muss beharrlich sein im Verfolgen der Ziele aber flexibel bei der Suche des Weges dorthin.
b) Aufmerksamkeit lenken
Fragen sind in ihrer Wirkung in Gesprächen nun aber keineswegs schlichte, „unschuldige“, quasi neutrale Bitten um Information, sondern Fragen transportieren auch etwas, werfen Themen auf, wirken als Weichenstellungen und lenken die Aufmerksamkeit in die jeweils gewünschte Richtung. Sie sind damit das bedeutsamste sprachliche Werkzeug, wenn es um die Steuerung und Beeinflussung eines Gesprächsverlaufs geht. Es gilt der Satz: Wer fragt führt. Doch wohin?
Die menschliche Aufmerksamkeitsspanne umfasst eine Datenmenge von maximal 100 Bit pro Sekunde . (s.: H. Legewie & W. Ehlers: Knaurs moderne Psychologie; 1972, S. 66) Das ist recht wenig und entspricht aller höchstens etwa zehn einzelnen Informationspartikeln , derer man sich in einer Sekunde bewusst werden kann. Allein durch die Nervenbahnen wird das Gehirn aber gleichzeitig mit mehr als 100 Megabyte pro Sekunde aus der Außenwelt versorgt (s.: Spitzer, M.: Musik im Kopf, Stuttgart 2002, S. 172) und noch einmal ein Vielfaches davon wird zusätzlich intern in Gedächtnisspeichern und allerlei emotionalen Verarbeitungszentren erzeugt. Es gibt also jederzeit eine schier unermessliche Menge an Informationen, derer man sich bewusst sein könnte, aber mit nur einem winzigen Bruchteil davon befassen wir uns tatsächlich. Der füllt uns in diesem einen Moment „Jetzt“ vollständig aus, den halten wir für relevant, der ist für uns die Welt und er wird durch die Worte anderer Menschen, mit denen wir kommunizieren, bestimmt. Ob wir wollen oder nicht: Worte unserer Sprache, die wir hören oder lesen, rufen Vorstellungen hervor. Dabei sind die Worte alleine wirksam, nicht der Satzbau oder die Absicht des Sprechers: Denken Sie einmal nicht an ein weißes Kaninchen.
Erfahrene Verhandler sind sich dieses suggestiven Potentials der Sprache stets bewusst. Insbesondere dann, wenn sie Fragen stellen. Fragen sind die geschickteste, weil indirekteste Art der Aufmerksamkeitslenkung und haben damit verdeckt unmittelbaren Einfluss auf das Denken und die Phantasie des Verhandlungspartners. Inhaltlich macht es kaum einen Unterschied, ob man danach fragt, warum etwas nicht akzeptabel erscheint oder danach, was akzeptabel wäre. Im Kopf des Gegenübers jedoch entstehen andere Vorstellungen. Im einen Fall werden Phantasien des Scheiterns erzeugt, im anderen solche des Gelingens. Die Wirkung ist subtil und sicherlich nicht alleine entscheidend, doch sind sich exzellente Verhandler vor allem auch der Auswirkungen auf ihr Gegenüber im emotionalen Bereich bewusst, die eine lösungsorientiert geführte Verhandlung im Unterschied zur problemorientierten hat. Erstere erlebt man typischerweise eher als konstruktiv.
c) Flexibilität und Initiative erhalten
Bei Verhandlungen kommt es weniger darauf an, wer das erste – sondern eher wer das letzte Wort hat. Für zahlreiche von Hierarchie geprägte Entscheidungssituationen gilt ja auch: Wer das Sagen hat, wird als letzter sprechen. Eine kluge Führungsperson hört sich zunächst an, was die anderen meinen oder wollen; wägt ab, denkt nach, bildet sich ein Urteil und spricht dann. Wer in Verhandlungen vorprescht, setzt sich dem Urteil der anderen aus, macht sich angreifbar und gibt die Initiative aus der Hand. Nun kann sich die andere Seite dazu positionieren, wie es ihr beliebt. Erfahrene Verhandler tun das genau nicht, sondern behalten ihre Karten vorerst auf der Hand, während sie versuchen, mehr über die Gegenseite in Erfahrung zu bringen.
Die eigene Auffassung als Zweiter ins Verhandlungsgeschehen einbringen zu müssen, birgt einen klaren taktischen Vorteil. Wenn die Position der anderen Seite bekannt ist, kann man sich entscheiden, wie man sich dazu stellen möchte. Man kann zustimmen oder ablehnen, teilweise zustimmen oder teilweise ablehnen, Gegenforderungen oder Ergänzungen benennen, möglicherweise sogar die Fortführung der Verhandlung ablehnen, bis bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Wie auch immer - man behält jedenfalls das Heft des Handelns in der Hand. Die so bewahrte Flexibilität ist eine wertvolle Ressource in nahezu allen Verhandlungssituationen .
d) Kooperationsbereitschaft signalisieren
Gelingende Verhandlungen sind immer auch Emotionsmanagement. Für typische Juristen wie auch für andere Verhandler, denen eine starke Orientierung an Rationalität und Logik nachgesagt wird oder die selbst an einem derartigen Image interessiert sind, zählen Emotionen zu den Störfaktoren professioneller Interaktion und gehören nicht an den Verhandlungstisch. Gleichwohl sind sie eine unabwendbare psychologische Realität und nach heutigem Stand der neurologischen Forschung sogar notwendige Vorbedingung bei der Erzeugung des menschlichen Bewusstseins überhaupt. Menschen, bei denen sie aufgrund verschiedenster Umstände ausgeschaltet sind, sind bewusstlos. Wachsein, Wahrnehmen, Denken, Handeln und Entscheiden, wie es am Verhandlungstisch gefordert ist, funktioniert nur in notwendiger Abhängigkeit und auf der Grundlage emotionaler Prozesse; mögen diese nun bewusst oder unbewusst sein, auffällig oder unauffällig, wahrnehmbar oder nicht. (vgl. Damasio, A. 2002)
Wer verhandelt, kann ihnen nicht entkommen, sondern muss sich um sie kümmern, will er nicht deren Opfer werden. Appelle wie „Lassen Sie uns das doch einmal ganz un-emotional betrachten“ wirken dabei oft unfreiwillig komisch oder provokativ. Aussagen wie, „ich sehe das ganz emotionslos“, mögen vielleicht in einem metaphorischen Sinne gemeint sein; nimmt man sie aber wörtlich, sind sie schlicht falsch. Es ist niemals die Frage, ob ein Mensch Emotionen hat oder nicht, sondern stets nur welche.
Emotionsmanagement ist Voraussetzung allen zivilisierten Verhaltens. Die Fähigkeit des Menschen zu verhandeln und Vereinbarungen zu treffen, selbst in Situationen äußerster Interessengegensätze und mächtiger Emotionen, ist eine Zivilisations- und Kulturleistung sondergleichen und in ihrer sozialen Bedeutung und ihrem Nutzen für die Menschheit der Entwicklung des Ackerbaus oder der modernen Medizin gleich zu setzen. Spektakuläre Erfolge der Verhandlungskunst in jüngerer Zeit (2015), wie etwa die Eindämmung des Ukraine-Konflikts, das Weltklima-Abkommen von Paris oder der Iran-Atomdeal, wären vor hundert oder gar zweihundert Jahren völlig undenkbar gewesen und zwar wegen des Mangels an Wissen und Werkzeugen zur Verhandlungsführung. Die Kunst der Diplomatie entwickelt sich immer weiter. Deren Kern bildet das Verhandlungswissen zum Umgang mit schwierigen negativen Emotionen wie Wut, Angst, Trauer und Verachtung in all ihren Spielarten von Stolz, Ehrgefühl, nationaler, kultureller und religiöser Identität sowie knallharten, materiellen Aspekten wie auch vor allem Machtinteressen. Dies ist das wichtigste und wertvollste, was Verhandlungskompetenz für uns alle bedeutet: Negative Emotionen im Zaum halten zu können. Ansonsten gibt es keine Einigung und keine Absprache, die auch nur das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben stehen.
Das war beileibe nicht immer so. Noch im amerikanischen Bürgerkrieg wurden manche Verhandlungen über Flüsse hinweg geführt und eine mittelalterliche Chronik berichtet etwa, wie ein Fürst zum Zwecke der Friedensverhandlungen zwischen zwei angrenzenden Fürstentümern - von deren Krieg er den Schaden hatte und die er darum in seiner Burg anberaumt hatte - zwei große Holzkäfige bauen ließ, in welche die beiden Delegationen der zerstrittenen Häuser eingesperrt werden mussten, während sie sich durch die Gitterstäbe hindurch ihre Forderungen und Vorschläge zuriefen. (Die Chronik berichtet allerdings weiterhin, dass wohl einer der Käfige nicht recht stabil gebaut war, so dass eine der Delegationen, als sie wegen der Forderungen der anderen Seite in Rage geriet, aus ihrem Käfig ausbrach und selbige massakrierte ...) (vgl. Mastenbroek, W. 2002, Negotiating as Emotional Management)
Emotionen in Verhandlungen können nicht ausgeschaltet, wohl aber beeinflusst werden. Dies als hilfreich - ja notwendig - für die sinnvolle Lösungssuche in prospektiven Verhandlungen anzuerkennen und auch nach dieser Einsicht zu handeln, wird von „typischen“ Juristen ohne die notwendige Ausbildung und Erfahrung eher selten gesehen.